Diercke Weltatlas

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    Zwar war ich schon in 60ern Besitzer eines Diercke Weltatlasses, kann aber alles nachvollziehen, was der Schreiber mitteilt (und ich glaube, dass es einigen hier genauso geht!):
    von Hans Michael Kloth


    Daran haben Schüler schwer zu tragen: Der "Diercke-Weltatlas" bringt seit 125 Jahren die große, weite Welt in Klassenzimmer und Kinderköpfe. Für SPIEGEL-ONLINE-Redakteur Hans Michael Kloth war der großformatige Klassiker kein schlichtes Schulbuch - sondern ein bebilderter Abenteuerroman.




    Was von meiner Schulzeit in der BRD der siebziger Jahre geblieben ist? Die Klassenreisen nach Sylt oder in den Schwarzwald fallen mir ein, auch die erste unglückliche Liebe, natürlich heimliche Zigaretten auf dem Schulklo. Und dann noch ein Schulbuch. Es war so groß, dass es nicht in den Ranzen passte. Schon morgens auf dem Schulweg konnte man so erkennen, bei wem heute Erdkunde (man sagte noch nicht Geografie) auf dem Stundenplan stand: Die Schnallen der Ränzel mussten offenbleiben. Wer wollte, konnte das Ding auch in der Schule in einen hellen Holzschrank einschließen lassen, aber die meisten nahmen es trotzdem mit nach Hause. Denn dieses Buch war nicht nur doppelt so groß wie alle anderen, es war auch doppelt so gut: der "Weltatlas" von Diercke.


    Die Sommerferien verbrachten die meisten Familien damals noch in heimischen Gefilden, im Bayrischen Wald oder an der Ostseeküste, und wenn jemand mit der Lufthansa (es gab nur die, und man nannte sie immer mit Artikel) ins Ausland düste, sprach man ehrfurchtsvoll von einem "Transkontinentalflug". In dieser sehr kleinen, sehr deutschen Welt, die sich für uns nur langsam, einer Auster gleich, Jahr für Jahr ein wenig weiter öffnete (der erste Italienurlaub!), war "der Diercke" eine Offenbarung und Verheißung, ein mächtiger Künder von Dingen, die da draußen auf uns warteten und die zu entdecken sein würden, wenn wir endlich erwachsen sein würden.


    Der "Diercke" war weniger Schulbuch als die kongeniale Fortsetzung von Karl May, Jack London und Joseph Conrad mit den Mitteln der Kartografie. Hinter dem nüchternen, kackbraunen Einband mit den goldenen Prägedruckbuchstaben tat sich in Wirklichkeit ein Bilderbuch auf, prall gefüllt mit echten und imaginierten Abenteuern. Wir durchforsteten die gelb-bräunliche Darstellung des amerikanischen Südwestens nach dem Llano Estacado, von dem wir in "Unter Geiern" gelesen hatten, fegten am Steuer eines Robbenfängers über die in Hellblautönen abgestuften Tiefenlinien des Atlantik wie Humphrey van Weyden im "Seewolf" oder wurden, während wir mit dem Finger den Läufen des Sambesi oder des Schwarzen Nils folgten, zu einem strahlenden, tropenhelmbewehrten Stanley, der soeben den verschollenen Entdecker Dr. Livingston im dunklen Herz Afrikas aufgespürt hat.


    Der Röntgenblick der Taschenlupe


    Stundenlang lagen wir auf dem harten Kurzflorteppich des Kinderzimmers und schwelgten in frühpubertärem Fernweh. Auf der Suche nach unbekannten Orten, Flüssen, Regionen, deren Namen wir am Frühstückstisch oder in den Abendnachrichten aufgeschnappt hatten, glitten unsere Finger ungeduldig am Koordinatennetz entlang. Oder wir durchstöberten mit dem Röntgenblick unserer Taschenlupen mehr oder minder bekannte Gegenden, um ihnen doch noch einen unbekannten Berg, Nebenfluss oder Marktflecken abzutrotzen. Und wir suchten gierig nach exotischen Namen, deren purer Klang sie als Schauplatz künftiger Abenteuer geeignet erscheinen ließ - Timbuktu, Madagaskar, Alaska. Fanden wir irgendwo in einem fernen Hochgebirge oder Archipel so einen vielversprechenden, in seltsam altmodischer Serifenschrift schwungvoll in die Landschaft gedruckten Namen, fühlten wir uns wie echte Entdecker.


    Das einzige, was uns am "Diercke" nicht sonderlich interessierte, war Deutschland. Gerade noch den Detailkarten meiner Heimatstadt konnte ich etwas abgewinnen, weil man an ihnen ablesen konnte, wie sich Hamburg über die Jahrhunderte ausgebreitet und das Umland vereinnahmt hatte. Ich ging von da an mit einem anderen Gefühl durch die Wallanlagen. Ansonsten: seitenweise kleine Kärtchen mit Siedlungsformen unterschiedlicher Regionen (Haufendörfer, Straßendörfer); abstrakte, weißgrundige Karten mit gelben, blauen, lila Tortendiagrammen und Bergwerkssymbolen, die den Ausstoß an Eisen, Stahl, Steinkohle an Saar und Ruhr immer in einem schon ziemlich lange zurückliegenden Referenzjahr illustrieren sollten.


    Leider faszinierten genau diese Aspekte unseren Erdkundelehrer am "Diercke" besonders. Er hieß Doktor Hoog, trug eine strenge Brille und im Nacken sehr kurz geschorenes Haar. Doktor Hoog bestand darauf, dass wir aufstanden, wenn er die Klasse betrat, und während der Unterrichtsstunden trug er in einem kleinen schwarzen Heft fortwährend kleine Plus- und Minuszeichen hinter die Namen seiner Schüler ein. Für richtige Antworten und gutes Betragen ein kleines Plus, für falsche Antworten und Unbotmäßigkeiten ein Minus. Ich sammelte ziemlich viele Minuspunkte, weil mich Doktor Hoog fortwährend ertappte, wie ich im Diercke ganz andere Stellen aufgeschlagen hatte, als die von ihm in strengem Ton annoncierten - die Doppelseite mit Australien statt die mit der suburbanen Agglomeration im Großraum Stuttgart oder die Fidji-Inseln anstelle des Harz.


    Verwirrendes "Diercke"-Deutschland


    Vielleicht fiel mir deshalb auch erst ziemlich spät auf, dass das politische Deutschland im "Diercke" so ganz anders aussah als auf der vertrauten Wetterkarte der "Tagesschau". Es war viel ausladender nach Osten hin. Besonders verwirrend war, dass das "Diercke"-Deutschland sogar noch größer war, als Bundesrepublik und DDR zusammen - entlang der Ostseeküste zog sich ein breiter, daumenförmiger Streifen bis an die Danziger Bucht, im Südosten ein langer Finger bis kurz vor Kattowitz. Und völlig abgetrennt davon sollte ein großer Klecks Landschaft an zwei Buchten namens Frischem Haff und Kurischer Nehrung herum auch noch Deutschland sein - seltsam.


    Die rotgedruckten Hinweise "unter polnischer Verwaltung" und "unter sowjetischer Verwaltung" verstärkten die Verwirrung noch. Wir kannten nur Wroclaw, nicht Breslau, Kaliningrad, nicht Königsberg, und wir hatten das ziemlich sichere Gefühl, dass Polen und Russen diese Landstriche nicht nur für uns Deutsche verwalteten. Die politisch Frühreifen erklärten uns Unbedarften die Zusammenhänge: Der "Diercke" war ein revanchistisches Machwerk, das uns Schüler mit den Gebietsansprüchen der konservativen Stahlhelmer und Entspannungsgegner indoktrinieren sollte. War nicht schließlich der Einband tiefbraun? Für eine Weile lag ein Schatten auf dem geliebten "Weltatlas", selbst wenn man politisch indifferent war. Denn wenn die deutschen Grenzen im "Diercke" gar nicht so gezeigt wurden, wie sie in Wirklichkeit verliefen - waren dann auch andere Karten manipuliert? Gab es vielleicht gar kein Timbuktu und kein Madagaskar?


    Die Reise mit der Maus


    Vor kurzem ist mir ein "Diercke" von 1948 in die Hände gefallen, er gehörte dem Vater meiner Frau. Der Atlas ist grün, nicht braun, und im Impressum steht der Vermerk: "Zugelassen zum Gebrauch an Schulen durch Office of Military Government for Germany". Die deutschen Grenzen sind dort genau wie in meinem Exemplar eingezeichnet - wenigstens waren die Alliierten also auch Revanchisten. Ganz hinten drin habe ich ein Blatt vergilbtes Papier gefunden, mit dem durchgepausten Umriss des Peloponnes und der griechischen Ägäis. Auch damals träumten Schüler in langweiligen Schulstunden wohl schon von der Ferne und südlicher Wärme.


    Der schlanke, grüne Band von 1948 steht im Regal jetzt neben meinem braunen aus den siebziger Jahren. Und bald kommt ein weiterer dazu, in blau. Zum 125. Jubiläum der "Diercke" hat der altehrwürdige Westermann-Verlag 2008 eine rundum überarbeitet Ausgabe herausgebracht, und wenn meine älteste Tochter nächstes Jahr in die 5. Klasse kommt, wird sie ihren eigenen "Diercke" bekommen. Für sie ist die Welt jetzt schon wie ein offenes Buch, nicht wie eine Auster, die sich ihr langsam öffnet. Schon als Kleinkind ist sie das erste Mal geflogen, und längst surft sie per Google Earth zu den entlegensten Winkeln unseres Planeten - statt wie ich mit dem Zeigefinger reist sie mit der Maus.


    Ich bin gespannt, ob der Kartenzauber des "Diercke" sie trotzdem packen wird.

  • ... ich hab das Ding auch geliebt, kann man wirklich so sagen, und bin damit auf Weltreise gegangen ..... ist sehr schön beschrieben in dem Artikel!

  • Ich glaube zwar nicht, dass wir diesen Atlas hatten.


    Aber ich weiss noch wie fasznierend so ein Ding ist. Unserer hatte dann noch Bilder und auch Seiten mit den geologischen, klimatischen.. etc. Begebenheiten.


    Muss mal die Eltern fragen.


    War einfach wahnsinnig schön so zu blättern. Man hatte ja kein Internet. Kann man wohl kaum mehr nachvollziehen heute. Irgendwann hatten wir eine Lampe in Erdkugelform.. das war auch so was.. huii FERNWEH auch eine Lufthansa Klimatabelle war so ein Schatz, den ich hatte. War fasziniert von "Ozeanien".


    So Bücher sind einfach was anderes. Hab von LQ das Not Fade Away erhalten, ist einfach nicht das Gleiche wie hier im Forum oder sonst im Internet. Anfassen, blättern... an einer schönen Stelle aufklappen und neben die Stereoanlage legen..


    Ok ich schweife ab.


    Danke fürs interessante Thema.

  • Das ist ja wirklich ein erinnerungsträchtiges Thema, vielen Dank für die Anregung!



    So sah mein am Ende ganz und gar zerfleddertes Exemplar aus .....





    und heute träume ich mit dem hier von der großen weiten Welt:


  • Als ich noch sooo klein war und das Lesen lernte, habe ich es genossen, einfach so im Atlas zu blättern. Das war genauso schön wie ein Comic - beides ist schön bunt mit wenig Text. Der Diercke Weltatlas war ab der vierten Klasse natürlich auch bei uns Pflicht. Dummerweise war in meiner Ausgabe jede zweite Landesgrenze nach drei Jahren veraltet... manchmal glaube ich, ich kenne die Grenzen von 1989 immer noch besser als die aktuellen.

    Les Trois Tetons in Oberhausen - ich war dabei

  • Es ist doch immer wieder schön, lauter Menschen mit ähnlichen Erlebnissen und Gedanken zu finden!!
    Ein Atlas war für mich als Kind mehr als ein Abenteuerbuch! Ich persönlich habe die Eisenbahnlinien geliebt und bin auf ihnen um die Welt
    gefahren.
    Aus diesem Grunde besitze ich eine ganze Reihe von Dierke-Exemplaren... (und anderen), die mir so zuflogen.

    "Verflucht, ich mußte oft draußen auf die Beatles warten." Keith, Aug 78

  • Den Atlas hatten wir immer im Klassenschrank...wir gründeten eine "Atlantenarmee" und haben die Jungs aus anderen Klassen damit verkloppt oder uns entsprechend gegen ältere Jungs gewehrt. Der Atlas war also echt klasse :zwinker

  • ...der Begriff "Dierkeatlas" war für mich neu!


    Obwohl Erdkunde/Geografie immer mein Lieblingsfach war.
    (Nein Neandi, Sexualkunde gab es erst später! :grr :D)