A BIGGER BANG
Nach acht Jahren ohne neues Album glaubte ich nicht mehr so recht daran, dass sich die Stones nochmals zu einer neuen Platte aufraffen könnten. Vier neue Songs die 2002 für die Kompilation 40 Licks aufgenommen worden waren, schwächelten teilweise stark, Jaggers letztes Solo-Album Goddess In The Doorwaywar in Summe mehr oder weniger eine Enttäuschung, der Jagger-Stewart-Soundtrack Alfie war allenfalls durchschnittlich, jedenfalls alles andere als ein Geniestreich und Keith Richards´ letzte Solo-Platte Main Offender lag nun gar schon dreizehn Jahre zurück.
Das alles ließ neben der Vorfreude auch Skeptik anwachsen, als endlich Aufnahmen für ein brandneues Album angekündigt wurden. Was konnte, was durfte man von den Stones noch erwarten? Eine handwerklich gut gemachte, aber letztlich nicht wirklich berauschende Platte wie Voodoo Lounge (1994), ein halbgares Etwas wie Bridges To Babylon (1997), das eher wie eine Sammlung von Jagger- bzw. Richards-Solonummern denn wie ein richtiges Stones-Album wirkte?
Um es kurz zu machen: Die neue Scheibe, selbstbewußt A Bigger Bang betitelt, ist großartig und stellt für mich eine Art Wiedergeburt der Stones dar. Diesmal machten sich Jagger-Richards keine großen Gedanken, wie aktuelle musikalische Trends in den Stones-Sound einzuarbeiten wären, griffen auf einen Produzenten zurück, der sich nicht als großer Sound-Neuerer gebärdete, verzichteten weitgehend auf Ausschmückungen durch Gastmusiker und nahmen ein Album auf, welches frischer, direkter, ehrlicher und überzeugender daherkommt als alles, was in den letzten zwanzig Jahren aus dem Stones-Umfeld kam. Sechzehn Songs mit insgesamt 64 Minuten Laufzeit, in denen keine Langeweile aufkommt. Ähnlichkeiten mit alten Stones-Songs sind oft unüberhörbar aber immer noch gilt die Regel „gut geklaut ist besser als schlecht erfunden“. Zu den neuen Songs:
Rough Justice
Es hat schon Tradition, dass am Anfang eines neuen Stones-Albums eine harte, schnelle Nummer aus den Lautsprechern fegt. So auch diesmal – rauh und ungehobelt zeigen die Stones wo der Hammer hängt. Musikalisch alles ganz beim alten, der Zahn der Zeit scheint überall zu nagen, nur nicht an den Stones. Da sprühen die Funken wie eh und je. Den Fan freut´s natürlich und die Kritiker der diversen Musik-Magazine dürfen wieder ätzen, dass sich die Stones wieder mal selbst kopieren etc. Egal – eine Spitzennummer.
Let Me Down Slow
Beim zweiten Song nehmen sich die Stones wieder deutlich zurück und warten mit einem straighten, absolut radio-tauglichen Mainstream-Song auf, der ganz klare Ohrwurmqualität sein eigen nennt. Angenehme Grundstimmung ohne Aggression, ein guter Song zum im-Hintergrund- laufen-lassen. Könnte unter Umständen auch eine nette Single abgeben.
It Won´t Take Long
Finster grollende Riffs als Intro, scheppernd einsetzendes Schlagzeug, das alles kommt einem gleich alles sehr vertraut vor... Egal, hat jedenfalls ordentlich Zunder, gute Gitarren und Jagger läuft zu Hochform auf. Die Stones pur und schnörkellos. Der Song gehört ins Tour-Programm gepackt.
Rain Fall Down
Erinnert musikalisch an die besseren Momente von Jaggers letztem Solo-Album, mit anderen Worten etwas modernerer Sound, ist aber dennoch eine verdammt starke Nummer. Stellenweise schöner Harmoniegesang, der einem auch von irgendwoher bekannt vorkommt, ein toller pulsierender Groove, das Intro, welches sich durch den ganzen Song zieht, hat etwas geradezu hypnotisierendes, unwiderstehliches.
Streets Of Love
Na, jetzt wird's leider peinlich... eine Reißbrett-Ballade, schmalzig und kuschel-rock-Sampler-mäßig... Jaggers übertrieben-affiger Gesang nervt gleich von Beginn weg, der Harmonie-Gesang (iii-iii-ii-iii walked...) ist oberpeinlich, richtig zum Davonlaufen. Dann steigert sich der Song auch noch zum Bombast-Kitsch-Overkill mit Synthesizer-Zuckerguß, ohje, ohje... Ich halte den Song für ein Zugeständnis ans Kommerzradio, um die nötige Playtime und Publicity auf allen Mainstream-Stationen zu kriegen. Ich kann mir nicht denken, dass die Stones damit innerlich wirklich was am Hut haben. Wurde zwar als Single ausgekoppelt, aber ist bis jetzt meines Wissens nach noch nicht einmal im Live-Programm aufgetaucht – das spricht Bände.
Back Of My Hand
Das trifft den Nagel schon eher auf den Kopf! Bei den letzten Alben haben die Stones stets jeweils ein, zwei reine Blues-Nummern aufgenommen und sie dann verschämt auf Single-B-Seiten versteckt. Diesmal verstecken sie den Blues nicht und man freut sich riesig drüber. Ein altmodischer Blues ganz und gar nach dem alten Schema – aber so und nicht anders soll´s ja auch sein. Top!
She Saw Me Coming
Wuchtige Drums gepaart mit schweren Riffs, dazu ein schleppender Rhythmus – eine sehr effektvolle Nummer, die sofort gute Laune macht. Jagger singt mit ungeheurer Lässigkeit. Der Song würde sich als Mitklatsch- und Mitgröl-Nummer bei Stadien-Konzerten gut machen. Einfach, ja geradezu simpel gestrickt aber dennoch: das reißt mit, da geht die Post ab!
Biggest Mistake
Wieder eine ausgesprochen radio-taugliche Nummer. Nicht gerade ein Überflieger, aber eine angenehm zu hörende Pop-Nummer. Im Sound ähnelt der Song den neuen Nummern, die die Stones im Jahr 2002 für 40 Licks aufgenommen haben – ein bisschen zu handzahm also insgesamt.
This Place Is Empty
Keith diesmal am Mikro und er macht seinem Ruf als Gänsehaut-Lieferant in Sachen Balladen wieder mal alle Ehre. Ein traumhaft schöner, sehr stimmungsvoller Song mit tollen akustischen Gitarren, einer der absoluten Höhepunkte auf dem Album. Keith´ Balladenstil unterscheidet sich auch hier wieder wohltuend von Mick´s Hang zur Übertreibung und affektiertem Getue. Eine Keith-Ballade wirkt einfach ehrlicher, nicht so gekünstelt wie bei Mick.
Oh No Not You Again
Ein schneller Rocker, der alles hat, was ich seit jeher an den Stones liebe: scharfe Gitarren, wummernder Bass, präzise drauflosdonnernde Drums, einen fauchenden Jagger und dazu noch eine unwiderstehliche Melodie – da kann man unmöglich still sitzen bleiben! Stones at their best, d-e-r Song hätte als Single rausgebracht werden sollen.
Dangerous Beauty
Wieder ein Rocker, knapp und präzise auf den Punkt gebracht, da ist kein Ton zuviel, geht sofort in Mark und Bein. Auch diese Nummer klingt sehr vertraut.
Laugh I Nearly Died
Ungeheuer dichte Ballade, in der unterschwellig der Blues gärt. Seit Down In The Hole von Emotional Rescue war Jagger nicht so intensiv wie hier. Ein ganz schweres Geschütz, das die Stones hier auffahren. Jagger klagt sich die Seele aus dem Leib und klingt dabei so aufrichtig wie schon lange nicht – ein weiterer Höhepunkt des Albums, fährt voll in die Magengrube.
Sweet Neo Con
Ein gutes, sparsames Intro aus Harmonika, knorrigen Gitarren und typischen Watts-Drums. Musikalisch etwas ungewöhnlich, hier wird Stones-Rock mit einem ziemlich exotisch wirkenden Refrain gemixt. Eine sehr gute Nummer, in der Jagger zynisch und aggressiv ein politisches Statement vom Stapel lässt. Undercover und Highwire lassen thematisch grüßen.
Look What The Cat Dragged In
Ist zu Anfang etwas gewöhnungsbedürftig, weil etwas vertrackter und komplizierter aufgebaut als es Stones-Song in der Regel sind. Hat man das Ding dann aber ein paar Mal gehört, macht es plötzlich klick und siehe da, der Song entwickelt sich zu einem der größten Favoriten des Albums.
Es gibt einige spannende Rhythmus-Wechsel, wilde, angriffslustige Gitarrenattacken, ein kurzes feines Gitarrensolo und Perkussions-Unterstützung für Charlie Watts. Jagger glänzt in Hochform.
Driving To Fast
ist mit Vollgas unterwegs – ruppig und ungehobelt. Der Rhythmus trocken und knüppelhart wie man es von den Stones am liebsten hat. Ein kompromißlos harter Song, der ein guter Abschluß für das neue Album wäre, aber...
Infamy
...da gibt's noch den Song Nummer sechzehn, der den Schlußpunkt bildet und traditionsgemäß von Keith Richards gesungen wird. Diese sehr sperrige Nummer ist meiner Meinung nach so was wie der Blinddarm der Scheibe - er ist da, aber kein Mensch braucht ihn. Monotones Bass- und Schlagzeug-Gestampfe, weit und breit nicht der Hauch einer Melodie in Sicht, Richards schimpft seinen Text vor sich hin. Was soll das? Schade, das Album wird zum Ende durch diesen Song, mit dem ich rein gar nichts anfangen kann, etwas verschandelt... Da hilft mir auch die doppelt getönte Stones-Brille nicht weiter, der Song ist Ausschuss...
Unterm Strich gefällt mir das neue Album so gut wie schon lange kein Stones-Album. Es ist meiner Meinung nach besser als alles was seit den späten 70er Jahren aus dem Stones-Lager kam. Seit Dirty Work das erste Album, mit dem mich die Band wirklich überzeugt und wo sich beim Hören genau die Begeisterung einstellt, die ich bei den letzten drei Alben doch vermisst habe – angesichts der Gesamt-Qualtität verzeiht man gerne die Kitsch-Tortur bei Streets Of Love sowie das verpfuschte letzte Lied. Ohne diese beiden Ausrutscher bleiben immer noch vierzehn Songs, von denen die meisten das Prädikat „sehr gut“ verdienen – was mehr kann man sich wünschen?
Um das Album nun gleich mit den allseits anerkannten Meilensteinen wie Beggars Banquet, Exile On Main Street oder Sticky Fingers zu vergleichen, dazu ist es noch zu neu, außerdem sind vorgenannte Werke durch die Erinnerung und die mediale Legendenbildung dermaßen verklärt, dass jedes Abwägen schwer fällt. A Bigger Bang ist jedenfalls ein tolles neues Album und besser als von mir erwartet und erhofft. Die Stones sind offenbar mit Feuer und Herzblut bei der Sache, da steckt wieder Emotion drinnen! Jagger ist mit seinen 62 Lenzen so gut wie lange nicht – einen überzeugenderen jugendlichen Rabauken hat er seit seinem Solo-Album Wandering Spirit nicht mehr abgegeben, die Luft scheint also noch lange nicht draussen zu sein.