Weihnachtstrauma

  • Es ist der 24. Dezember, 13 Uhr: Ich sitze auf meinem Koffer im überfüllten ICE Richtung Heimat. Ich bekomme eine SMS von meiner Mutter: „Hoffe, du hast das Geschenk für Oma dabei. Schaffe es nicht, dich vom Zug abzuholen, es gibt ein Problem mit dem Weihnachtsbaum.“ Typisch Mutter, denke ich, behandelt mich immer noch wie ein Kleinkind. Und überhaupt: Problem mit dem Weihnachtsbaum? Ich krame in meiner Tasche nach Kopfschmerztabletten. Nach dem gestrigen Fiasko namens Last-Minute-Geschenke-Shopping legte ich mein Wohl in die Hände des Barkeepers meines Vertrauens. Leider! Verpasste daher meinen regulären Zug mit reserviertem Sitzplatz.


    13.05 Uhr: Die Typen spielen sich inzwischen Technoversionen von Jingle Bells vor. Wo sind die verdammten Kopfschmerztabletten?



    13.18 Uhr: Bekomme eine SMS von meiner Schwester: „Mama hat mich gerade dazu gezwungen, einen Weihnachtsbaum zu stehlen. Bleib lieber in Berlin, hier ist Totalchaos. Mir fehlt noch ein Geschenk für Oma. Hast du was?“ Ich bin bei Verrückten aufgewachsen.


    13.20: Oh nein, wo ist die Tüte mit den Geschenken? Lieber Gott, bitte mach, dass sie ganz unten in der Tasche ist. Oder hab ich sie vielleicht neben dem Bett...?


    13.21 Uhr: FUCK!


    13.30 Uhr: Der Weihnachtsmützenprolet schenkt mir einen Jägermeister.


    13.35 Uhr: Und noch einen.


    13.37 Uhr: Und noch einen.


    14.00 Uhr: Hicks!


    15.00 Uhr: Ich wanke aus dem Zug – rein ins Taxi. „Na, Weihnachten ist es eben bei Mutti am schönsten.“, sagt der Taxifahrer. Ich denke an meinen imaginären Freund mit Landgut. Ich denke an den realen Wahnsinn namens Verwandtschaft. Ich sage nichts. Als wir durch die geschmückten Kleinstadtstraßen fahren, denke ich kurz: Vielleicht wird dieses Jahr doch alles ganz anders.


    18.00 Uhr: Irrtum! Ich habe mich in Nullkomanix in das nörgelige Kind verwandelt, das ich nie sein wollte. Streite mit meiner Schwester um das Fernsehprogramm, den Sitzplatz am Esstisch und die Kerzenfarbe. Meine Mutter hantiert mit hochrotem Kopf in der Küche, meine Oma erzählt von Verdauungsproblemen und fragt mich wiederholt, wo denn mein netter Sebastian sei. Sebastian und ich sind seit vier Jahren getrennt. „Oma, ich bin Single“, sage ich. „Wer ist denn Jingle?“ fragt meine Oma. Ich schalte ihr Hörgerät wieder an. Meine Schwester und ich trinken den dritten Glühwein. 20 Uhr: Bescherung. Ich gestehe, dass ich meine Geschenke in Berlin vergessen habe. Meine Mutter zieht nur die Augenbraue hoch, mein verzogener Neffe ätzt: „Dann hättest du auch gleich da bleiben können.“ Darauf: peinliche Stille.


    20.10 Uhr: Meine Schwester schenkt mir einen Vibrator. Meine Oma fragt nach dem Verwendungszweck, mein Onkel schlägt vor, ihn gleich auszuprobieren, meine Mutter schreit auf – jedoch nicht vor Begeisterung. Aus der Küche zieht Rauch: die Gans!


    20.30 Uhr: Wir singen Weihnachtslieder. Es klingt nach Tierquälerei. Beim Festmahl versuchen wir gemeinschaftlich zu ignorieren, dass der Braten nach zähem Leder schmeckt. Meine Schwester spuckt auf Konventionen und zündet sich nach dem ersten Bissen eine Zigarette an. Meine Mutter ist den Tränen nah, mein Onkel, der militante Gesundheitsfanatiker, nah am Herzinfarkt. Er reißt das Fenster auf und krächzt: „Zum Glück regelt ihr Luftverpester das mit dem Aussterben selbst!“ Jetzt beginnt der kaputteste Teil des Abends: die Grundsatzdebatten. Rauchverbot, Sozialpolitik, Klimawandel. Alle schreien durcheinander. Einzig sinnvolle Verhaltensregel: mehr trinken. 21 Uhr: Der Freund meiner Schwester steht mit Rosen vor der Tür. Mir wird schlecht. Weitertrinken! 22 Uhr: Der Freund meiner Mutter hat inzwischen die Digitalkamera rausgeholt. Er zwinkert mir zu: „Das hier ist feinste Realsatire.“


    23 Uhr: Meine Tante fragt, ob es stimmt, dass ich jetzt lesbisch sei.


    23.30 Uhr: Mein Onkel fragt, ob ich nur schreiben oder auch richtig arbeiten würde. Na dann, Prost!


    0.10 Uhr: Ich liege mit der Weinflasche im Arm auf dem Sofa. Bevor ich ins Koma falle, höre ich, wie meine Oma zu meiner Mutter sagt: „Ich mach mir Sorgen um das Kind. Wenn da mal keine Drogen im Spiel sind – in Berlin weiß man ja nie.“ „Ach, ich glaube sie ist nur frustriert“, antwortet meine Mutter „so ganz ohne Freund.“ „Mädels!“, schreit mein Onkel in die Runde, „wir sehen uns morgen Punkt eins zum Essen.“


    2.31 Uhr: Ich habe einen Albtraum: Er heißt Weihnachten und er kommt jedes Jahr aufs neue.


    Die Kolumne "Heartcore" erscheint jeden Dienstag auf WELT ONLINE. Da unsere Kolumnist über die Feiertage bei ihren Eltern weilt, erscheint die nächste Folge erst im neuen Jahr. Alle Texte von Johanna Merhof gibt es hier.