1965 - Berlin Waldbühne 15.09.1965

  • Der Urknall


    Kampf um die Rolling Stones: Erinnerungen an ein epochales Waldbühnen-Konzert vor 40 Jahren
    Von Olaf Leitner


    Time Is On My Side: Die größte und älteste Rockband der Welt, mit einem neuen Album („A Bigger Bang“) zurzeit mal wieder auf Welttournee, beglückte vor vierzig Jahren zum ersten Mal Berlin. Bei dem legendären Katastrophenauftritt der Rolling Stones vom 15. September 1965 wurde nicht nur die Waldbühne demoliert, sondern auch das Weltbild in West und Ost. Unser Autor Olaf Leitner, Jahrgang 1942, spielte mit seinen Team Beats im Vorprogramm. Er war 24 Jahre beim Rias, schrieb Bücher über West-Berlin und die Rockmusik in der DDR und lebt heute als freier Journalist in Norddeutschland. Die Team Beats (1961– 68) hinterließen drei Singles.


    Na klar, wir waren sicher, dieses Konzert der Rolling Stones würde Spuren hinterlassen und Meilensteine setzen. Wir, das waren die Team Beats Berlin, eine in der Stadt leidlich bekannte Amateurband. Unser Manager hatte sich bei den richtigen Leuten eingeschleimt, um uns als eine der Vorgruppen in der Waldbühne auftreten zu lassen. Ohne Gage, versteht sich. Und ohne Catering. Diesen Begriff kannten wir damals noch gar nicht.


    Ein Rias-Reporter, der die Ankunft von „Mike“ (!) Jagger und den Stones auf dem Flughafen Tegel beobachtete, kündigte angesichts der wartenden Fans die Invasion an: „lange Haare, schlampige Kleidung und dicke verschmutzte Pullover“. Waldbühne. Mikrofonprobe im noch leeren Rund. Einmarsch der Polizei, assistiert von mordlüsternen Hunden. Eine Armee Lorbeerbäume rollt an. Deko oder Schutzmaßnahme? Die Post installiert ein Telefon.


    Die Völkerwanderung schwebt ein, die Hunde brüllen im Unterholz. Die Waldbühne wird zum tosenden Kessel mit Freudenfeuern, Knallfröschen, Gaspistolen, Raketen. Ein stadtbekannter Jüngling und Barbesitzer schwingt sich aus seinem Jaguar. Er organisiert die Show für Berlin.


    20 Uhr, die Vorgruppen als Kanonenfutter. Wir mit Bammel durch den Tunnel zur Bühne. Im Vorraum wimmelt es von Polizisten. Noch haben sie gute Laune: „Na, Jungs, spielt mal 'n Walzer!“ Grinsen. „Was ist für Sie der Mythos der Stones?“ Ich habe ein Mikrofon vor der Nase. „Die verkörperte Rebellion gegen die Welt der Erwachsenen“, erkläre ich. Der Reporter strahlt. Dann hinein in den Höllenschlund. Gleich ein Setzei auf der Orgel, Apfelgranaten. Unter den 22000 winken auch viele unserer Fans. Zwanzig Minuten Vollgas. Abtreten. Geschafft! Als endlich die Zauberformel „Die Rolling Stones!“ aus den Lautsprechern lärmt, bricht der Urschrei los. Mick Jagger lässt die Kippe im Mund baumeln, macht mit seinen Leuten Mätzchen. Das Publikum will mitmischen: Auf die Bühne! Attacke! Die Steine rollen erst einmal hinter die Bühne zurück.


    Die Stones probieren es noch einmal. Vom Tourneestress offensichtlich müde, spielen sie ihre Songs ziemlich lustlos herunter, bevor sie in Richtung Hotel Gerhus verschwinden. Das Publikum begreift – die Show ist vorbei. Keine Zugabe. Wo gibt’s denn so was? Jetzt explodiert der Kessel. Jener örtliche Veranstalter, der unter Hajo firmierende Kneipier vom Wittenbergplatz, knipst in Panik das Licht aus: „Bitte räumen Sie die Waldbühne, die Veranstaltung ist zu Ende!“ Das Areal liegt nun im tiefsten Dunkel, was keineswegs besänftigend wirkt. Abtransport von Rauf- und Trunkenbolden, Ohnmächtige und Verwundete werden vom DRK gestapelt.


    Die meisten Jugendlichen streben zwar den Ausgängen zu, sofern sie welche entdecken. Eine kleine verschworene Gemeinschaft aber stellt fest, wie verwundbar Sitzbretter sind, und beginnt, diese systematisch und mit Lust zu zerknacken. Es klingt, als ob ein Wald in Flammen stünde und sich das Feuer knisternd vorwärts schiebt. Dachziegel unbekannter Herkunft platschten auf den Boden, Flaschen schwirren durch die Nacht, Laternen werden verbogen. Die Polizei, die sich anfangs zurückgehalten hatte, wird verprügelt und mit Absperrgittern beworfen.


    Ein ehrendes Gedenken sei jenem flinken Fan zuteil, der sich blitzschnell an Mick Jagger herangepirscht hatte, um ihm die Jacke zu entreißen, welche dieser gerade helikoptermäßig um seine eigentlich ziemlich kurzen langen Haare kreisen ließ. Unser Held plumpste mit seiner Beute ins Publikum zurück, wo man die Reliquie gierig zerlegte.


    Dieser Tag musste ein historisches Datum werden, weil alles falsch gemacht wurde, was falsch zu machen war. Auch die Springer-Presse trug ihr Scherflein zum Inferno bei: Der Verlag an der Kochstraße, damals im Besitz von „Bravo“, hatte die Stones unter dem Logo der Teenie-Zeitschrift über Land geschickt und das Publikum Wochen vorher aufgeputscht. Das Motto, sinngemäß: „Also, Berliner Fans, wenn die Rolling Stones auftreten, ist Bambule angesagt. Da dürft ihr euch nicht lumpen lassen!“ Dieser Befehl wurde in deutscher Gründlichkeit befolgt. Auch wir, die Team Beats, waren blauäugig. Wir stellten uns in einem Gang der Katakomben auf, um die Stones zu einem Bierchen nach dem Konzert einzuladen. Als die Stars dann in Richtung Bühne an uns vorbeipreschten, bekam ich nur einen kräftigen Schubs von – ich glaube, es war Mick Jagger. Immerhin!


    Alle inzwischen traditionellen Pflichtübungen des Fanpublikums wie Unterwäschewerfen, In-Ohnmacht-Fallen, ekstatisches Verrenken, Bühnestürmen, Zündeln, hysterisches Kreischen waren für jenen 15. September in Berlin hart trainiert worden. Die demolierte Waldbühne beherrschte die Schlagzeilen der kommenden Tage. „Nie wieder!“, sagte der Innensenator. „Wild gewordene Teenager zu bewachen, ist eine Beleidigung für ehrenhafte Beamte“, meinte die Polizei.


    Noch ein Desaster: Für den Abtransport nach der Schlacht sorgte neben dem BVG-Fuhrpark auch die rumplige und ungemütliche S-Bahn, von den West-Berlinern „Spalter-Bahn“ gescholten, weil sie der DDR gehörte. Das musste politische Konsequenzen haben. Die Waggons wurden von frustrierten Fans demoliert, aus Enttäuschung wegen der allzu kurzen Show und aus Rache an der DDR und an der Welt allgemein. Die DDR machte eine Schadensrechnung von einigen hunderttausend DM auf, die sie dem West-Berliner Senat übersandte. Aber was sind schon ein paar demolierte S-Bahn-Fenster gegenüber den vielen jugendlichen DDR-Seelen, die von der wilden „Negermusik“ à la Rolling Stones vergiftet wurden und somit ihr Land gefährdeten. Die „Junge Welt“ schrieb: „Das Ziel ist die blinde Bereitschaft zur Gewalttätigkeit gegen die DDR (…) Die Hitler-Jugend sang in einem Lied, dass sie marschieren wolle, ‚bis alles in Scherben fällt‘. Genau in diesen Zustand soll die westdeutsche und Westberliner Jugend versetzt werden.“


    Im Oktober trat das „Neue Deutschland“ nach und reaktivierte vergessen geglaubte Nazi-Jargons, wenn es die Beatfans und „Gammler“ so beschrieb: „Ihr Anblick bringt das Blut vieler Bürger in Wallung: verwahrlost, lange zottlige, dreckige Mähnen, zerlumpte Twist-Hosen. Sie stinken zehn Meter gegen den Wind. Sie benehmen sich wie die Axt im Walde, als seien sie von der Waldbühne herübergeweht worden.“ Da musste die SED einschreiten, und so wurde das 11. Plenum des ZK der Staatspartei im Dezember 1965 zum Finale einer sich nach Mauerbau zaghaft andeutenden liberaleren Kulturpolitik. Die „Beatmusik“ wurde als Indiz imperialistischer Massenbeeinflussung von Staatschef Walter Ulbricht und seinem späteren Nachfolger Erich Honecker verdammt. Viele Künstler wie etwa Wolf Biermann bekamen die Rote Karte, Schriftsteller oder Filmemacher wurden böse gerügt, unliebsame Theateraufführungen gestrichen. Die SED erklärte die „Unterhaltungskunst“ (DDR-Terminus fürs Showbusiness) zum „Hauptkampfplatz der Ideologie“, weil deren westliche Elemente über Radio und Fernsehen ungehindert durch die Mauer in die DDR gelangen konnten.


    Von Ulbricht sind die goldenen Worte überliefert: „Das mit dem ‚Yeah-yeah-yeah‘, damit muss nun endlich Schluss sein.“ Er sprach vielen DDR-Bürgern aus dem Herzen. Aber auch denen aus der BRD. „Beatmusik“ galt damals in Ost wie West als Höhepunkt dekadenten Künstlertums. Heute hat jedes Kurorchester einen Stones-Song im Gepäck, und „Angie“ (damals noch nicht erfunden) hilft der CDU mit Kanzlerkandidatin Merkel (damals auch noch nicht erfunden) im Wahlkampf.


    In der „FAZ“ äußerte sich 1965 der Herausgeber und Feuilletonchef Karl Korn höchstselbst zum Stones-Phänomen. Korn, der 1940 anlässlich seiner Hymne auf den Film „Jud Süß“ in der Zeitschrift „Das Reich“ erkannt hatte, dass das „jüdische Problem in Deutschland … innerlich bewältigt“ sei, fand wie das „Neue Deutschland“ zum Nazi-Sound zurück: „Wie ist es möglich, dass fünf lächerlich unmännlich gekleidete und behaarte Wesen Tausende junger Menschen zu frenetischem Hüftwippen und Kopfnicken bringen?“ Typen „mit seltsam affenähnlichen ruckweisen Bewegungen“? Ohnehin waren Rezensionen von Rock-, damals noch: Beatkonzerten nicht etwa Aufgabe der Feuilletons, sondern der Polizeireporter.


    Zwar war es nicht das erste Konzert, das in West-Berlin Jugendliche in ekstatische Exzesse versetzte. Am 26. Oktober 1958 hatte bereits Bill Haley mit seinen Comets den Sportpalast zum Glühen und das Publikum zum Demolieren gebracht. Doch sieben Jahre später stieg das Verhalten der Jugendlichen zum Thema wissenschaftlicher Analysen auf. „Ist das die Repression des Alltags innerhalb der Konsumgesellschaft, die Monotonie und Einförmigkeit, auch mangelhafte Bewegungsfreiheit in einer Arbeitswelt, die dem Einzelnen noch wenig Möglichkeiten zu seiner Entfaltung lässt?“, fragte Klaus Mollenhauer, damals Professor an der Pädagogischen Hochschule. Sein Kollege Wilfried Gottschalch wies auf den „Funktionsverlust, den die Familien unserer Gesellschaft erlitten haben“, hin – ein jetzt wieder heiß diskutiertes Thema.


    Lange Zeit unbespielbar, war die Waldbühne erst Jahre später wieder einsatzfähig. Auch die Stones kamen gelegentlich wieder: Es blieb friedlich.