2003 - Oberhausen 13.06.2003

  • Leise, aber lauter werdend, wurde das Intro abgespielt, ein rhythmisches Schlagzeugintro. Und plötzlich schossen die Rolling Stones auf die Bühne. Keith Richards preschte als erstes einige Schritte nach vorn und schlug zielsicher die Anfangsakkorde von Brown Sugar an, dicht hinter ihm bestieg Charlie Watts seinen Schemel und plötzlich stand auch Ron Wood auf der Bühne, noch einige Späßchen machend bevor sein Einsatz nahte. Die Menge johlte, die Anfangspassage des Songs näherte sich bereits dem Ende und nebenbei baute sich die riesige (wirklich riesengroße und mehrfach teilbare) Leinwand wie von Geisterhand auf. Mick Jagger tänzelte als letztes ins Rampenlicht und stieg mit der ersten Strophe gleich lautstark ein. Viele verschiedene Songs hatten die Stones ausgewählt, um ein Konzert zu beginnen; und auch mit diesem Klassiker konnten sie nichts falsch machen. Die stark vorgetragene Version - natürlich mit dem Saxophonsolo von Bobby Keyes und dem vom Publikum bereits ungeduldig erwarteten Yeah-Yeah-Yeah-Whoo-Teil zum Mitsingen - war der Startschuß für die Show.


    Es folgten kurze, bündige Rocknummern: You Got Me Rocking aus dem 1994er Voodoo Lounge-Album, wurde ebenfalls dankbar aufgenommen; Ronnie spielte das zweite Solo, war aber etwas unkonzentriert. Nach Micks Begrüßung "Hallo Oberhausen! Seid Ihr bereit, Eure Ärsche zu bewegen? All right." übte Keith grinsend noch ein wenig, wie das Riff von Start Me Up nochmal ging. Der Song rockte wie immer, weil dessen Zutaten so unwiderstehlich sind: Ein geiles Riff von Keith, ein einfacher Refrain von Mick, ein fetziges Solo von Ronnie und natürlich der Beat von Charlie. Anschließend erklärte Mick "Das ist ein äh... neue Lied. This one's called Don't Stop!" Und obwohl der Song eigentlich unscheinbar ist, kam auch hier wieder die tolle Liveatmosphäre zum Vorschein, die Zuschauer stimmten wie so oft in den Chor ein. Mick war unglaublich in Form und bei Stimme! Unnachahmlich mimte er den Frontmann mit vielen spitzen Schreien und reichlich Palaver auf Englisch und Deutsch: "Are you feeling good? Are you feeling good!? Say oh yes! Oh Yeah!" Die Pausen zwischen den Songs waren erstaunlich kurz. Ebenso grandios Charlies Spiel: Von einem 62-jährigen Jazzliebhaber muß man nicht unbedingt erwarten, daß er den Beat so energisch nach vorne treibt. Toll.


    Bitch ist einer meiner Favoriten aus den Mick Taylor-Tagen und das Riff verfehlte auch heute seine Wirkung nicht. Leider waren die Bläser zu laut und Keiths Gibson kaum zu hören. Trotzdem gute Version. "Wir spielen etwas langsamer, ja?" lautete die Ankündigung von Angie. Die Feuerzeug-Schnulze mit akustischen Gitarren hat natürlich viele Anhänger im textsicheren Publikum. "Thank you! Wie geht's? Do you feel like singing a little bit tonight?" You Can't Always Get What You Want war in den letzten Jahren immer langsamer und ruhiger geworden. Doch die reichlichen Möglichkeiten, den Text in den Abendhimmel zu singen und zu schreien, waren immer wieder schön. "Ihr seid ein geiles Publikum." war der verdiente Lohn.


    "We're gonna do a little Blues for ya now." Nanu, dachte ich. Den hatte ich erst auf der kleinen Bühne erwartet. Was würde kommen? Little Red Rooster, Mannish Boy oder vielleicht... Rock Me Baby! Na sowas! Den haben sie doch in Sydney gespielt bei dem Klubkonzert (das Internet macht es heutzutage möglich von Konzerten zu lesen, die wenige Stunden zuvor auf der anderen Seite des Erdballs stattfanden). Rock Me Baby, wunderbar. Und plötzlich standen zwei Leute mehr auf der Bühne. Ein Zwerg mit vergleichsweise riesiger Gitarre und ein weiterer Kerl direkt neben dem Schlagzeug. Angus und Malcolm, geduscht und in frischen T-Shirts (Angus im T-Shirt!) jammten mit den Stones. Mick röhrte seinen Gesang kraftvoll wie eh und je, die Gitarren groovten herrlich mit Soli von Angus, Keith und Ron, mit später einsetzenden Bläsern und jeder Menge Fun. Wahnsinn! Einfach Wahnsinn. Der Song trieb swingend fünf, sechs, sieben, vielleicht acht Minuten vor sich hin und hätte ruhig ewig so weiter gehen können. Rock me Baby, rock me all night long. Gegen Ende des Liedes sprang Angus wie ein Irrwisch auf Charlies Schlagzeug zu wie bei einem AC/DC-Auftritt. Ich konnte leider Charlies Gesicht nicht sehen, doch auch er wird es genossen haben!

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  • Das war ein Meilenstein. Das anschließende Tumbling Dice ist seit 1972 ein Evergreen und bot die Möglichkeit, mal ein wenig Luft zu holen. Denn hier klatscht man mehr als man singt. Gegen Ende sang Mick ein wenig Falsetto und dann war bereits Halbzeit des Konzerts. "Ich möchte Euch jetzt die Band vorstellen:" Tim Ries (Saxophon), Kent Smith (Trompete), Michael Davis (Posaune), Bobby Keyes (Saxophon), Blondie Chaplin (Hintergrundgesang), Bernhard Fowler (Hintergrundgesang), Lisa Fisher (Hintergrundgesang), Chuck Leavell (Keyboards), Darryl Jones (Baß). Anschließend waren die Stonesmitglieder an der Reihe, die natürlich mehr Zuspruch erhielten. Wie üblich bekam Charlie einen Extraapplaus, obwohl er das mit Abstand ruhigste Bandmitglied ist. Es folgte Keiths Teil als Sänger: "Hi everybody." Etwas verlegen sagte er, es sei ein schöner Sommertag und schön, daß alle gekommen sind. Thru And Thru war sein erstes Stück und gefiel mir richtig gut. Seitdem ich die TV-Übertragung von New York 2003 gesehen habe, mag ich diesen Titel besonders gerne; zuvor habe ich kaum Notiz von dessen Existenz genommen. Wie immer bei mir gewinnt ein Song erst dann an Format, wenn mir die Live-Fassung gefällt. Seine zweite Nummer hieß Before They Make Me Run und wurde fehlerfrei serviert. Ronnies Gitarrenspiel pendelte wie für ihn typisch zwischen schön und schrill. Eine geniale Kameraeinstellung mit den Umrissen von Keiths wolfsähnlichem Konterfei und dem Vollmond beendete sein Intermezzo als Hauptsänger.


    Sympathy For The Devil nahte, mit besonders Aufsehen erregenden Effekten, da die Bühne wie aus dem Nichts Feuer gen Himmel spuckte und buchstäbliche Hitze verbreitete. Nach der zweiten Strophe spielte Keith sein erstes Solo; nachdem er etwas spät aus den Puschen gekommen ist, steigerte er sich immer mehr hinein. Der Song gefiel mir auf dieser Tour besser als beim letzten Mal. Er war einfach lebhafter und kraftvoller als zuvor. Wobei ich wieder beim Sänger bin, dessen Stimme an dem Tag einfach extrem gut drauf war. Mick guggelte, röhrte, sang und schrie nach Belieben. Während des längeren Schlußteils dominierten zudem die beiden Gitarren und die drei Hintergrundsänger. Whoo whoo! Es folgte der Gang auf die kleine Bühne; der Weg über den Steg wurde idealerweise genutzt, um den Zuschauern die Hände zu reichen und Präsente entgegenzunehmen. Einer nach dem anderen bestieg schließlich die kleine Bühne, die wie ein Boxring von allen Seiten mit Zuschauern umsäumt wurde; das Licht der Hauptbühne wurde gänzlich abgedreht, die Hintergrundsänger und Bläser blieben zurück - nun gab's die Stones pur. Fast schon Klubatmosphäre im weiten Feld des mit über 70.000 Menschen gefüllten Zukunftsparks. "How are you doing right here?" - großartig! It's Only Rock 'n' Roll war ein weiterer beliebter zwei Gitarrensong mit Refrain-mitsing-Möglichkeit. Rock 'n' Roll nach Art des Hauses. Keith war tonangebend mit seiner von Chuck Berry abgekupferten Spielweise, die Rock und Blues miteinander verbindet.


    Der von Bob Dylan geschriebene Like A Rolling Stone war ähnlich wie Tumbling Dice ein Midtempo-Rocker, der nicht überragend ist, aber gern gehört und mitgesungen wurde. "Thank you very much, fucking great audience indeed!" Beim Midnight Rambler funkte es dann was das Zeug hielt; da paßte einfach alles. Ein Intro mit Mick an der Mundharmonika, Keith gab das Kommando für den entfesselten ersten schnellen Teil, zur Mitte hin lief der Song in eine Art improvisierte Pause mit Mick als kreischenden Anpeitscher für die Zuschauer: "Ev'rybody say OUT! OOOOOUUUUUU! OU! OU! OU! Oh yeah...". Jeder würde bei dieser Tonlage einen Stimmbandriß erleiden; aber nicht Mick, schon gar nicht heute. Der furios-fetzige Schlußteil ließ seine Mundharmonika, die beiden Gitarren, Charlies Schlagzeug, Darryl Jones' Baß und Chuck Leavells Klavier swingen und grooven. Wie eine Dampflokomotive bahnte sich der Midnight Rambler seinen Weg. Zu schade, daß auch dieser Song irgendwann nach einer knappen Viertelstunde ein Ende haben mußte. Es ging zurück mit Händeschütteln zur großen Hauptbühne.

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  • Ein Intro mit Drum-, Keyboardelementen sowie Lisa Fishers Gesangskostprobe entwickelte sich im Laufe der Zeit zu Gimme Shelter. Das Duett mit Mick und Lisa kam seit Jahren gut an und das Publikum wußte Lisas Gesangsvolumen zu würdigen. Und bei kaum einem anderen Song fügten sich die beiden Gitarren so gelungenen zusammen. Beim folgenden Honky Tonk Women wurden die Blicke dann wieder von Lisas langen Beinen auf die Leinwand gelenkt, auf der ein Animé-Trickfilm die Story des Liedes nachahmte. Ein Girl trieb es mit der Zunge, dem Emblem der Stones, das wohl Micks markanter Mundpartie entnommen wurde. Dieser Honky Tonk ließ das Entzücken der Fans noch einmal in die Höhe schnellen, er ist einer der beliebtesten unter den beliebten Songs. Daß Keith wie in alten Tagen die zweite Stimme sang, machte diese Version nur besser. Ein rasantes Street Fighting Man zeigte ihn dann einmal mehr als tonangebenden Leadgitarristen. Lang, länger zogen sich die Powerakkorde hin. Nach vielen Minuten fehlte plötzlich sein Anteil - was war passiert? Keith hockte auf einem Seitenarm der Bühne auf den Knien, die Gitarre wie sein Baby haltend, den Blick überglücklich zum Publikum gewandt. Die anderen spielten natürlich weiter und Keith stimmte bald wieder in den lauten Reigen der Straßenkämpferhymne mit ein. Dieser Mann ist auf der Bühne zu Hause. Satisfaction heizte die Stimmung dann noch einmal an, die Hymne eines Jahrzehnts, einer Generation. Jeder kannte sie, jeder sang sie mit. Charlie fügte wie eh und je schnelle Zwischenstücke ein; Mick lief wie ein Sportler vom einen Ende der langen Bühne zum anderen und animierte die Zuschauer zum Klatschen und Tanzen. Keith spielte auf seiner grellen, silber-pinken Gitarre sein Solo, das alsbald wieder ins Riff überging. Rotes Konfetti regnete in Strömen aus vier Kanonen auf die Zuschauer herab, das Ende des Konzertes schien sich leider anzubahnen. "Thank you, Oberhausen! Vielen Dank und gute Nacht!" Die Stones gingen von Bord, das Licht wurde gedimmt. Die obligatorische Zugabe - Jumpin' Jack Flash - folgte kurze Zeit später unter reger Anteilnahme des Publikums. Die Arme schmerzten, man verstand sein eigenes Wort nicht, die Stimme hatte wahrscheinlich ihren Dienst längst quittiert. Wo meine Füße waren wußte ich nicht. Aber egal, ich stand noch und sah, wie Mick wie ein jugendlicher hin- und herlief, wie Ronnie seine Gitarre mit dem markant kleinen Korpus spielte, wie später nochmal die wuchtigen Bläser einsetzten und schließlich wie Keith und Charlie zusammenspielten und irgendwann das Ende des Abends beschlossen.


    Das Konzert war zu Ende gegangen; die Band verneigte sich, ein Feuerwerk wurde abgebrannt und um Mitternacht war der Spuk dann endgültig vorbei. Körper und Geist verlangten nach Ruhe und Erho*tilt*lung. Das war mehr als nur ein Konzert. Der Dreierpack Cranberries, AC/DC, Stones erfreute die Besucher knapp 4 1/2 Stunden lang. Das hatte Festivalcharakter. Das war Extraklasse! Das war die Präsentation der Könner: Brian Johnson, Angus Young, Mick Jagger und Keith Richards beherrschten die riesige Bühne genauso wie die riesige Menschenmenge, die begeistert davor stand.

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  • ooohooo, Fleißarbeit Pokalheld.....wirklich nett zu lesen......pack es in Deine persönliche Stonesmappe........ärger mich heute noch, dass ich nicht meine Konzerterlebnisse aus alter Zeit dokumentiert habe.
    Wie wichtig und spannend solch persönliche Aufzeichnungen sind haben wir dann ja durch den Essen 65 Bericht erfahren.

    Stonezeit

  • Da sagst Du was Stonezeit, ärgere mich auch, dachte früher immer, das wäre für ewig im Kopf verankert, nur sind es mittlerweile so viele Konzerte, das so manche im Geuste sich vermischt haben und vor allem blasser werden!


    Toller Thread Pokalheld, mehr davon!

    MICK69.JPGmetallica.ico

    Sweet Cousin Cocaine, lay your cool cool hand on my head...


  • Haha, mehr davon. Wenn Ihr mir sagt, wie Wob 95 und Han 98 gewesen sind, schreibe ich das gerne auf Und weil ich eben traurig über meinen Schaumlöffel*) bin, habe ich drei Wochen nach dem Konzert alles aufgeschrieben, was ich noch wußte. Mit Erfolg! Das Konzert habe ich jetzt eigentlich vergessen, aber an den Text kann ich mir noch gut erinnern


    Aber vielleicht kriegen wir ja doch noch mehr von solchen Threads zusammen. Wenn jeder was beisteuert (kann ja auch von zwei Konzerten der 65er Tour sein), müßte man doch eine ganze Geschichte hinkriegen können. Vor allem bitte mit vielen scheinbar unwichtigen Details.


    Daß es damals noch die D-Mark gab, weiß ich auch Aber wie waren die "Eingangskontrollen"? Welchen Stellenwert hatte so ein Konzert - zitterte man monatelang vorher und entschied man sich spontan "Konzert oder Kino"? All sowas halt. Wäre doch schön


    *) Satz meines Geschichtslehrers, wenn wir seine Fragen mal wieder beantworten konnten: "Der liebe Gott hat mir anstelle eines Gehirns einen Schaumlöffel gegeben!"

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