Die Presse über Shine a Light

  • Berlinale 2008
    Leih mir Dein Leben: The Rolling Stones Vs. Martin Scorsese

    Veritabler Eröffnungscoup: SHINE A LIGHT

    "The thing is: We love what we're doing," sagt Keith Richards bei der Pressekonferenz der Rolling Stones. Und weil er das eher nebenbei sagt, und weil Richards und die Stones ja nun niemand mehr etwas vormachen oder beweisen müssen, und weil Richards - man weiß nicht ob inzwischen einfach grundsätzlich naturdicht, oder schon am frühen Nachmittag wieder oder noch, und von was auch immer, angeheitert - auch nicht wirkt wie jemand, der groß geschickt Werbesätze aufsagen oder rumlügen könnte, selbst wenn er Interesse daran hätte - nun, aus all diesen Gründen darf man es ihm wohl einfach glauben.
    Und vielleicht ist das letztlich auch schon das ganze und eigentliche Geheimnis von SHINE A LIGHT.
    Jedenfalls muss man eingestehen: Mit dieser Stones-Konzertdoku als Eröffnungsfilm ist der Berlinale ein veritabler Coup gelungen.
    Erstmal ganz klar: Das Plansoll an Rotem-Teppich-Star-Faktor war damit geradezu übererfüllt. Was sind schon bloße, leibhaftige Filmstars - in gewisser Weise ja doch immer nur der enttäuschendere, menschliche Teil ihrer Leinwandpersona - gegen echte Rockstars? Und nicht irgendwelche Rockstars, sondern lebende, aber erstaunlicherweise nach wie vor künstlerisch lebendige Legenden! Der Auftrieb war entsprechend.
    Dann aber ist SHINE A LIGHT auch cineastisch so über jeden Zweifel erhaben wie seit Menschengedenken kein Berlinale-Eröffnungsfilm mehr: Ist er ja nicht weniger als der neueste Martin Scorsese-Film, seine zweite Live-Rockdoku nach dem unerreichten THE LAST WALTZ. Dazu mit der Dokumentarfilmer-Legende Albert Maysles an einer der Kameras, der dank GIMME SHELTER als ausgewiesener Fachmann für die Schnittstelle zwischen Stones-Auftritt und Kinoereignis gelten darf. (Mick Jagger landet übrigens bei der Pressekonferenz die durchaus gelungene Pointe, SHINE A LIGHT sei der einzige Martin Scorsese-Film, auf dessen Soundtrack der Song "Gimme Shelter" nicht vorkäme...)
    Und schließlich ist mit diesem Eröffnungsfilm auf denkbar publikumswirksame Weise doch auch der Tatsache Rechnung getragen, dass es in den letzten Jahren zunehmend weniger die Filmfiktionen waren, die einem auf der Berlinale (und manch anderem Festival) zu den nachhaltigsten Kinoerlebnissen verholfen haben. Sondern dass in Gegenposition zum Blockbuster-Kino, dessen Welten immer virtueller werden, Filme oft da besonders stark scheinen, wo sie sich darauf besinnen, dass Film eben zunächst ein aufzeichnendes Medium ist, ein Mittel, um ein paar Momente des Blickens zu konservieren.
    SHINE A LIGHT wäre kein Film von "Martin Sorkese" (G. Beckstein), wenn er nicht ein sehr reflektiertes Stück Kino wäre. Man merkt ihm an, dass Scorsese alles studiert hat, was es bisher an Konzertdokus gab. Und zunächst, in einer einführenden Viertelstunde über das Zustandekommen des Projekts, wird erst einmal spielerisch die Künstlichkeit der Situation vorgeführt, das quasi-Heisenbergsche Paradoxon eines Projekts, das mit großem technischem Aufwand vorgibt, ein ungezwungenes Stückchen Wirklichkeit aufzuzeichnen. Ja, der Beobachter verändert die Situation, und SHINE A LIGHT inszeniert das anfangs als einen freundlichen Machtkampf zwischen Rocklegende und Kinogott. Scorsese - der sich selbst spielt, als würde er von Woody Allen dargestellt - will seinen Appart und seine Kontrolle. (Über Scheinwerfer, die zu heiß werden könnten, meint er: "We need the effect. But we cannot set Mick Jagger on fire. We can't do that.") Aber gerade dieses Element der Kontrolle sabotieren die Stones stets lustvoll. Das alles spitzt sich zu im Ringen um die endgültige Songreihenfolge - im Film sieht es so aus, als bekäme das Filmteam die Setliste erst Sekunden vor Konzertbeginn. Das ist - was Scorsese und die Stones bei der Pressekonferenz auch gleich zugeben - freilich eine hübsche Fiktion, ein bisserl Spielfilm zum Anfang der Doku.


    Wenn dann aber die Musik losgeht, dann gibt es nur noch wenig Narration und Reflexion - abgesehen von ein paar kurzen, zwischengestreuten Ausschnitten aus alten Interviews. (Auf die Weise kommt die alte Privatfernseh-Pappnase Jochen Bendel auch zu einem Kurzauftritt in einem Scorsese-Filme - wer hätte das je prophezeit...)
    Nur einmal ist den Worten erlaubt, auch einen Song zu überlagern - und das just, wo das Gesagte am Überflüssigsten ist: Weil es ohnehin nur ausspricht und verdoppelt, was die Bilder klar genug machen. Denn es ist offensichtlich, dass eins der großen Themen des Films die Dynamik innerhalb der Band ist, die vielfältigen, subtilen und komplexen Frontverläufe zwischen den vier Musikern.
    Jagger ist das Über-Ich der Gruppe. Er ist ihr Kopf, in dem Sinne, als er sein Gesicht vorne ins Rampenlich hält. Drum kriegt er in SHINE A LIGHT auch einen kleinen Laufsteg, der aus der Bühnenmitte in den Publikumsraum hinausragt.

  • Fortsetzung:
    Er ist ein begnadeter Performer, aber man merkt auch, dass bei ihm die Bühnen-Persona am meisten nur Spiel, nur eine Rolle ist. Jagger ist jedoch auch der Streber unter den Stones. Wenn die Pressekonferenz gute fünfzehn Minuten zu spät beginnt, vermutet man bei Keith Richards, dass er erst da grade mal so hinreichend die Orientierung wiedergefunden hat, bei Charlie Watts, dass man noch neue Batterien einsetzen musste. Bei Jagger wirkt es bloß wie das akademische Viertel. Er sagt all die klugen Sachen, er ist sogar über das restliche Programm der Berlinale verblüffend gut informiert, weiß, dass Dokus über eine irakische Heavy Metal-Band und iranischen Frauenfußball gezeigt werden.
    Richards - der auf der Pressekonferenz wirkt, als würde er die Parodie seiner selbst imitieren, die Johnny Depp in PIRATES OF THE CARIBBEAN hingelegt hat - dagegen ist das Es. Er ist das nimmersatte Tier, das Un- und Unterbewusste. Zu Jaggers Kopf ist er Herz, Magen (wohl auch Leber). Wenn er auf der Bühne steht, dann denkt er nicht nach, sagt er im Film. Wo Jagger ein Performer ist, ist Keith Richards quasi eine Installation: Ein (man glaubt's kaum: noch immer) lebendes Gesamtkunstwerk.
    Dazwischen steht Ron Wood (der nach Berlin seine Frisur mitgebracht hatte - nein, wirklich, das sieht aus, als würde es sich um eine eigenständige Entität handeln). Er ist eher der Handwerker, er vermittelt zwischen den exaltierten Polen Jagger und Richards, gibt dem Ganzen einen tragfähigen Mittelbau. Seine Aufgabe und Persona sind weniger glamourös und prominent, aber nicht minder essentiell.
    Und dann hinter und über allem die Sphinx Charlie Watts. Der innerhalb der Stones als etwa das wirkt, was die Freimaurer in einer ordentlichen Verschwörungstheorie sind: Die geheime Macht im Hintergrund, die nie groß in Erscheinung tritt, der man aber zutraut, in Wahrheit alle Fäden in der Hand zu haben. Charlie Watts ist die coolste Sau von allen. Möglicherweise ist er nur ein älterer, etwas verwirrter Herr, der beruflich Schlagzeug spielt und eigentlich am liebsten seine Ruhe hätte. Aber man wird das Gefühl nicht los, dass hinter seinem Lächeln etwas lauert. Er ist das Enigma, ist die insgeheime, ironische Dekonstruktion der Rock'n'Roll-Show, die da vor ihm auf der Bühne abläuft.
    Zwischen diesen vier Charakteren verlaufen mannigfaltige Verbindungs- und Trennlinien - es gibt die Achse Jagger-Richards als die beiden dominierenden Figuren der Band, es gibt die Achse Richards-Woods, eine gegen den Zampano Jagger verschworene Brüderschaft, es gibt eine besondere Beziehung zwischen Richards und Watts als den beiden Trickstern der Gruppe, eine zwischen Jagger und Woods als den beiden bewussteren Arbeitern.
    Das zu beobachten macht SHINE A LIGHT so spannend, über den Unterhaltungswert der Musik an sich hinaus. Man spürt, dass die Band selbst Spaß am Spiel mit dieser Dynamik hat. (Die sich eben auch zum Pressekonferenz-Auftritt - den sie gutgelaunt und unprätentiös absolvieren - fortsetzt. Da reicht dann beispielsweise Jagger mal eine Frage lachend an Charlie Watts weiter, der theatralisch hadert damit, dass er jetzt doch was sagen muss, und Richards versichert ihm, dass er sich bisher gut gehalten hat.)
    Und es ist, womit wir wieder beim Keith Richards-Zitat vom Anfang wären, eben dieser Spaß, der sich überträgt. Scorsese sagt selbst bei der Pressekonferenz, dass diese Art von Film ihn verjüngt. Es ist eine Frischzellenkur gegenüber dem großen, mühsamen Basteln an einer Fiktion. Geradezu vampirisch saugen die Kameras hier die Spontaneität auf einer Kunst, die im Moment stattfindet und lebt, die eine absolute Unmittelbarkeit der Kommunikation zwischen den Künstlern und mit dem Publikum hat: Das genaue Gegenteil einer Hollywood-Spielfilmproduktion.
    Daran bereichert sich SHINE A LIGHT (und mit ihm die Berlinale), wobei er im Gegenzug die Nähe, Flexibilität, Genauigkeit und Selektion der Wahrnehmung mitbringt, die der Film dem realen Konzerterlebnis voraushat.
    Wenn sich die diesjährige Berlinale also Rockstars und Musik als einen Schwerpunkt erkoren hat, dann ist das mehr als nur ein geschickter Schachzug im Heischen um öffentliche Aufmerksamkeit. Dann steckt dahinter auch das Ringen eines Mediums, das in letzter Zeit gelegentlich den Eindruck des Ausgelaugten macht, um neues Leben.
    Es ist ein Paradoxon, dass ausgerechnet die seit Jahrzehnten eingespielte Show dieser vier faltenzerfurchten älteren Herren zum Frischesten gehört, was das Festival bisher an Bildern zu bieten hatte. Es scheint seither fast so: Jeder Film, der sich nicht bei der Wirklichkeit bedient, um Kraft und Faszination zu gewinnen, tut dies auf eigene Gefahr. Nur ganz wenige haben das Können, den Willen, die Eigendynamik, einen bewusst künstlichen Gegenentwurf zur Welt zu setzen, welcher ähnlich wirkungsvoll ist. Davon dann aber das nächste Mal.
    Thomas Willmann

  • Danke für den Tipp, LQ! Da werde ich doch morgen direkt mal schauen, wo ich die Zeitung bekomme... 11 Seiten lohnen sich ja, und das Cover ist spitze!

  • Zitat

    Teufelchenu schrieb am 14.02.2008 18:19
    Danke für den Tipp, LQ! Da werde ich doch morgen direkt mal schauen, wo ich die Zeitung bekomme... 11 Seiten lohnen sich ja, und das Cover ist spitze!


    Vorallem für € 2.- & DVD da kann man echt nicht meckern


    Der ursprüngliche Tip kam aber von Mrs M!

    MICK69.JPGmetallica.ico

    Sweet Cousin Cocaine, lay your cool cool hand on my head...


  • Danke Iris. Diese Kritik oben hab ich sehr gerne gelesen. Nicht weil sie gut war, sondern weil sie auch das Gefühl der Live-Konzerte widerspiegelt, das was man so mitkriegt, was da oben so passiert. Und wenn Scorsese das echt einfangen konnte, auf Film, dann kann ich mich freuen. Nicht dass Ihr es falsch versteht. Ich finde halt normalerweise dass all die DVD's nie "live" ersetzen können. Deswegen

  • Ich habe die Zeitschrift Vanity Fair gestern bei EDEKA gekauft.
    Hatte ich bisher noch nie gelesen. Ist aber ein ganz nettes Heft.

    You can`t always get what you want.16.08.90 GE; 20.06.95 K; 24.06.98 D; 13.06.03 OB; 23.07.06 K; 13.08.07 D; 29.11.12 L; 06.07.13 L; 19.06.14 D; 27.09.17 BCN; 30.06.18 S

  • Zitat

    Mrs M schrieb am 14.02.2008 22:59
    Danke Iris. Diese Kritik oben hab ich sehr gerne gelesen. Nicht weil sie gut war, sondern weil sie auch das Gefühl der Live-Konzerte widerspiegelt, das was man so mitkriegt, was da oben so passiert. Und wenn Scorsese das echt einfangen konnte, auf Film, dann kann ich mich freuen. Nicht dass Ihr es falsch versteht. Ich finde halt normalerweise dass all die DVD's nie "live" ersetzen können. Deswegen


    DITo M, sehe das auch so!


    Bekam grad bei dem Satz;


    Zitat

    Jagger ist das Über-Ich der Gruppe. Er ist ihr Kopf, in dem Sinne, als er sein Gesicht vorne ins Rampenlich hält. Drum kriegt er in SHINE A LIGHT auch einen kleinen Laufsteg, der aus der Bühnenmitte in den Publikumsraum hinausragt.
    Er ist ein begnadeter Performer, aber man merkt auch, dass bei ihm die Bühnen-Persona am meisten nur Spiel, nur eine Rolle ist. Jagger ist jedoch auch der Streber unter den Stones.


    richtig Gänsehaut, hat auch jetzt nix mit meiner Sympathy für Jagger zu tun!


    Oder das hier, absolut geil geschrieben;


    Zitat

    Zwischen diesen vier Charakteren verlaufen mannigfaltige Verbindungs- und Trennlinien - es gibt die Achse Jagger-Richards als die beiden dominierenden Figuren der Band, es gibt die Achse Richards-Woods, eine gegen den Zampano Jagger verschworene Brüderschaft, es gibt eine besondere Beziehung zwischen Richards und Watts als den beiden Trickstern der Gruppe, eine zwischen Jagger und Woods als den beiden bewussteren Arbeitern.


    Das ist MIT ABSTAND einer der geilsten Artikel, die ich in letzter Zeit gelesen habe, mir fuhr immer wieder die Gänsehaut über den Rücken = nochmehr Vorfreude auf den Film!

    MICK69.JPGmetallica.ico

    Sweet Cousin Cocaine, lay your cool cool hand on my head...